Generationen vertragt Euch

 

 

Generationen vertragt Euch

Theatralische Betrachtungen über das vierte Gebot "Du sollst Vater und Mutter ehren"


Erst im 19. Jahrhundert wurde aus dem vierten Gebot eine Verpflichtung der Kinder gegenüber ihren Eltern (Du sollst schön artig sein). Das dem aktiven "ehren" auch ein passives "ehrwürdig" gegenüberstehen muß, wird bis heute außer Acht gelassen. Wir wollen die Ehrwürdigkeit der Eltern unter die Lupe nehmen und als gesellschaftliches Problem beleuchten.
Beispielsweise wird in den Schulen nicht mehr nach elterlichen Verpflichtungen gefragt, sondern nur danach, wie viel Sozialarbeiter, Kinderpsychologen etc. neu eingestellt werden müssen. Eine Hauptschule in Wülfrath ist einen anderen Weg gegangen und hat die Eltern vertraglich gebunden, ihren elterlichen Verpflichtungen nachzukommen, mit erstaunlichem Erfolg.

Zur Inszenierung

Das Prinzip der Dualität, wie es im vierten Gebot zu finden ist, wollen wir auch auf die Inszenierung anwenden. Auf der einen Seite stehen die vielen "Alten", die gut situiert sich die Dienstleistungen im Alter erlauben können, die die Familie nicht mehr zu leisten im Stande ist. Das gesellschaftliche Problem ergibt sich erst im körperlichen Zerfall und den daraus entstehenden moralischen und ethischen Verpflichtungen.

Eine Gruppe attraktiver Senioren (Sänger und Schauspieler) tafelt an festlich gedecktem Tisch erlesene Speisen. Sie sind unter sich und unterhalten sich mit Küchenliedern aus der guten alten Zeit, die Erinnerungen an die Großfamilie wiederentstehen lassen.

Die Fassade bröckelt, Gebisse bleiben im Hummer stecken, der Service kann nicht mehr bezahlt werden. Das Abendkleid wird versetzt, gutes Glas zersplittert, gepflegte Unterhaltung mutiert zum Lallen mit Brei.
Das Personal wandelt sich von der Bedienung zum Pfleger und erzählt Märchen:

"Der alte Großvater und sein Enkel", Brüder Grimm
Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floß ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen mußte sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein hölzernes Schüsselchen.(...) Wie sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. "Was machst du da?" fragte der Vater. "Ich mache ein Tröglein" antwortete das Kind, "daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin."


Die "Enkel" treten auf. Es sind Jugendliche, die in Heimen aufgewachsen sind und mit "Eltern" Abweisung und Gewalt verbinden. Das Zusammentreffen mit diesen Kindern wird im Produktionsverlauf zeigen, in welcher Form sie bei den Aufführungen präsent sein werden; filmisch, tondokumentarisch, oder selbst agierend.
Die assoziative Inszenierungsform setzt verschiedene Bilder unserer Gesellschaft zusammen. Entwicklungen. Familiendefinitionen. Gedanken des Theologen Johannes Taschner.

Wir denken, dass diese Inszenierung einen Beitrag zur aktuellen Diskussion liefert: Wohin bewegt sich unsere Gesellschaft? Dadurch, dass sie die Extreme dieser Diskussion theatralisch zuspitzt, schärft sie den Blick auf das Wesentliche.

Zur Musik
Erfahrung des Realraums / Identität

Ausgangspunkt und Material der Komposition für "Du sollst Vater und Mutter ehren" ist das deutschsprachige Volkslied, im besonderen verschiedene Lieder aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die Elektronik-Musiker des Ensembles TEXTxtnd/Frankfurt werden die Lieder musikalisch stilisieren und durch Verwendung elektronischer Mittel in neue Klangkontexte stellen. Das Volkslied wird als Signatur eines geschichtlichen Gedächtnisses verstanden, als Ort eines Archivs, das weniger gelesen wird, als es vielmehr einem selektiv-maschinellen Prozess von Wahrnehmung unterzuziehen, einem komplexen System von Filtern, Kopplungen und Ausschlüssen maschineller Scanningbefehle. So verstanden ist Identität von Erfahrung und medialem Gegenstand nicht semantisch zu fassen, vielmehr wird sie lesbar aus den Momenten und Formen ihrer medialen Präsenz.

Das Volksliedmaterial soll einer musikalischen Ästhetik von Noise - bzw. abstrakten Elektronikklängen gegenübergestellt werden. Während Stimmen und akustische Instrumente live zum Einsatz gelangen werden, erklingen die elektronischen Sounds aus einem räumlichen "irgendwo" - von CD oder direkt aus dem Computer.
Sprachlich findet eine Entwicklung von deutschem Biedermeier, über Wortzerhacken, Phonemgestaltung bis zu Slampoesie statt.

Zum Libretto

Johannes Taschner ist Dozent an der kirchlichen Hochschule Bielefeld. Er schrieb seine Promotion über das vierte Gebot, die die Bedeutung und Interpretation für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts untersucht. Diese Abhandlung im Hintergrund liefert die Ausarbeitung einer konkreten Eltern – Kind Geschichte in unserer Gesellschaft.

Generationen vertragt Euch

Regie
Frank Schulz

Komposition
Oliver Augst/Marcel Daemgen
TEXTxtnd/Frankfurt

Libretto
Annette Bieker
Frank Schulz

Beratung
Johannes Taschner

Kostüme/Bühnenbild
Ján Kocman

Mitwirkende
Annette Bieker
Alexandre Pelichet
Theo van Gemert
Seniorentheater Düsseldorf SeTa

Co-Produktion mit dem Stadttheater Aachen